Der Tatortreiniger
Was treibt ihn an? Wie verarbeitet er das Gesehene? Marcell Engel hat da so seine Methoden. Unlängst berichtete der Tatortreiniger bei einem Redner-Wettstreit – und gewann. Nun hat er im Wortsinn Blut geleckt und will öfter als Redner auftreten.
VON UTE VETTER
Frankfurt
Er kommt überall dort hin, wo der Tod seine Spuren hinterlassen hat. Marcell Engel (46) wischt Blut auf, kratzt Gewebereste weg, beseitigt Ungeziefer, Körperflüssigkeiten und Leichengeruch. Notfalls muss er dazu Wände und Böden aufbrechen. Seit einem Vierteljahrhundert ist der 1,98 Meter große, 115 Kilogramm schwere und athletisch gebaute Mann („ich hab‘ früher geboxt, jetzt schätze ich asiatische Kampfkunst“) ein nachträglicher Zeuge von Verbrechen, Unfällen und Suizid. Er wird in Wohnungen gerufen, in denen Leichen wochenlang gelegen haben und die Fenster schwarz von Fliegen sind. „Das halten viele nicht lange aus, die Abbrecherquote in dem Job ist sehr hoch, man muss psychisch stabil sein“, sagt der Gründer und Geschäftsführer der deutschlandweit tätigen Frankfurter Firma „Akut SOS Clean – Die Spezialreinheit“.
Tatortreiniger ist ein Knochenjob. Körperliche Arbeit, kombiniert mit extremer psychischer Belastung sind Gründe, warum der Nachwuchs knapp ist. „Am Salär kann es nicht liegen, ein guter Tatortreiniger kann zwischen 2500 und 3500 Euro netto verdienen“, sagt Engel. Etwa 300 Menschen stehen bei ihm in Lohn und Brot auf fester und freier Basis; darunter sind allein 100 qualifizierte Schädlingsbekämpfer. Damit gerade unerfahrenere Kollegen mental bei der Stange bleiben, empfiehlt Engel unter anderem Bewegungsübungen, um vor einem Tatort-Einsatz Positivismus und Selbstvertrauen zu erreichen. „Dafür werde ich oft komisch angeguckt, aber das ist mir egal“, sagt der Hüne, steht auf, streckt seine Arme gen Himmel, ballt die mächtigen Hände und atmet tief ein und aus. Das helfe, sich nicht „kaputtzumachen“. Denn für viele Einsätze gilt: „Wir räumen das Leben verstorbener Menschen weg.“
Dramatische Fälle
Engel, in Bad Soden geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Niederrad. Seit dreieinhalb Jahren lebt er wieder in Bad Soden; mit seiner zweiten Frau, den drei gemeinsamen kleinen Kindern und dem 27-jährigen Sohn aus seiner ersten Ehe. „Der Große macht bereits in der Firma mit“, sagt der Vater stolz. Nach besonderen Einsätzen gefragt, erinnert er sich. Etwa an die 240 Kilogramm schwere Frau, die längere Zeit unbemerkt tot in ihrer Wohnung lag. „Sie hatte früh wegen ihrer Fettleibigkeit Mobbing erfahren, vergrub sich jahrelang zu Hause und starb an der Fettsucht.“ Verwandte erzählten ihm davon. Eine andere Frau, krankhaft eifersüchtig, prügelte ihren devoten Mann mit einem Hammer derart erbarmungslos durch die Wohnung, dass das Blut bis an die Decke spritzte. „Sie war krank. Nach der Tat rauchte sie eine Zigarette auf dem Balkon. Sie war barfuß, ihre blutigen Fußabdrücke waren überall. Ihr Mann überlebte schwer verletzt.“
Zu seinem Job kam Engel über Umwege. „Ich lernte Karosseriebauer und Kfz-Mechaniker. Ab und zu richtete ich gebrauchte Autos her und verkaufte sie mit etwas Gewinn weiter. Als ich erfuhr, dass sich in einem dieser Autos ein Mann mit einem Kopfschuss umgebracht hatte, fand ich das spannend“, erzählt er. Beim Verkauf hielt er den entsprechenden Hinweis nicht zurück. „Ich bin ein ehrlicher Mensch“, betont er.
Er sattelte bald um, arbeitete erst im Bereich Sicherheits-/Alarmanlagen, bevor er seine erste Reinigungsfirma gründete. Längst ist er Spezialist, hat „mindestens 40 Berechtigungsscheine und Fortbildungen“ gemacht, nutzt Kenntnisse von Chemikern, schreibt Hygienepläne und Handbücher, desinfiziert seit 2015 Flugzeuge der Bundeswehr (sie könnten Erreger von Auslandseinsätzen mitbringen), ist seit diesem Jahr Partner der Bundeswehr und unterstützt militärische Einrichtungen bei Einsätzen zur Bekämpfung von Pandemien und Epidemien mit der Konzeptionierung von Desinfektionsmaßnahmen und speziellen Strategien. Auch für die
Bundespolizei, die Deutsche Bahn und Lufthansa Technik ist er tätig.
Grenzerfahrungen
Engel ist ein ehrgeiziger Mann. Er will eine Akademie gründen. Denn: „Gute Putzfrauen gibt es viele. Aber gute Spezialreinigungskräfte sind rar.“ Verwesungsgerüche durch
Fäulnisprozesse, Gerüche in Messie-Wohnungen oder durch übertriebene Tierhaltung, Schimmel, Fäkalien, Nikotin, Buttersäure oder Brandschäden ließen sich nicht einfach durch Putzen entfernen. „Nur eine restlose Zerstörung der Geruchsmoleküle führt zur Neutralisation und zu einer geruchs- und keimfreien Raumluft.“ Gerade Leichenfundorte hinterließen oft einen starken Verwesungsgeruch, besonders wenn der Körper längere Zeit gelegen habe – auch in den umliegenden Wohnungen, Treppenhäusern und Hausfluren.
Die fachgerechte Desinfektion und Geruchsneutralisation erfolgt nach entsprechenden Gesetzen. Die Gerüche neutralisiert er etwa mittels tief in jeden Baustoff eindringenden Heißdampf mit Bionizer (Helferbakterien) und/oder Ozongeneratoren sowie einer halogenen Desinfektion-Geruchsumwandlung. Er hat eigens einen „Smoke-Ex“ entwickelt. Und büffelte dafür Chemie und jetzt Bio-Chemie. Was er nicht mehr macht: Eine Messie-Wohnung reinigen und entrümpeln, wenn der Bewohner zu Hause ist. „Das halte ich nicht mehr aus.“ Und über Fälle, in denen Kindern eine Rolle spielen, spricht er grundsätzlich nicht.
Mit der Zeit entwickelte Marcell Engel ein immer größeres Streben nach Sauberkeit. Auch privat: „Ja, ich putze gerne und helfe gerne im Haushalt mit. Reinigen ist meine Passion.“ Und er ist wissbegierig: Als die Kirche Notre Dame in Paris brannte, dachte er über die dortige Schwermetall-Kontaminierung nach, denn er hat beruflich auch mit Brandschäden und der Dekontaminierung teils hochgiftiger Substanzen zu tun. Er suchte den französischen Brandschaden-Sanierer, kontaktierte ihn, im Oktober wird er nach Paris fahren, sich informieren, etwas lernen – und eine Dokumentation erstellen.
Tod und Lebensweisheit
Er ist ein Macher. So hat er etwa 2014, als das Thema Ebola aufkam, für die Bundesregierung eine Beratungshotline im Hygienebereich erstellt. „Ich verdiente nix dran, wollte diese Zusammenarbeit aber nennen und so für mich nutzen dürfen“, sagt er. Für Eigenwerbung hat er inzwischen auch ein Händchen. So faszinierte er kürzlich bei einem internationalen „Speaker Slam“, einem Redner-Wettstreit, das Publikum mit seiner Geschichte und erhielt, obwohl Neuling, von der Fachjury die Auszeichnung „Excellence Award“. Über 200 Teilnehmer aus 18 Nationen waren in Düsseldorf vertreten, er gehört zu den Finalisten, die für ihren fünfminütigen Vortrag geehrt wurden.
Das beflügelt Engel, er hat jetzt einen PR-Berater, will bald eine eigene Vortragstour starten. Denn er redet gerne, hat ein Sendungsbewusstsein. „Ich bin als Tatortreiniger tausende Male mit dem Tod konfrontiert worden. Okay, ich werde einen gewissen Voyeurismus bedienen. Aber vor allem will ich zum Nachdenken über das Leben vor dem Tod anregen. Jeder Mensch sollte versuchen, glücklicher und zufriedener zu sein.“